Hans Haffenrichter

 

Hans Haffenrichter wurde am 31. August 1897 in Würzburg geboren. Sein Geburtshaus in derWolfhartsgasseSwarden Häusern von Balthasar Neumann und Tilman Riemenschneider benachbart. Der Vater, Buchdrucker von Beruf, förderte früh die künstlerischen Neigungen seines Sohnes. „Er hatte immer kleine Blocks und Stifte für mich bereit, sogar auf unseren Spaziergängen. Schon mit 5 Jahren entstanden meine ersten „Portraif'-Skizzen, meist ganz klein. Als ich 9 Jahre alt war.schenkte mir mein Vater einen größeren Ölfarbkasten. Mit 13 Jahren erhielt ich den ersten Malunterricht im Polytechnischen Zentralverein Würzburg bei Professor von Manstein."1'

In einem Rückblick aus dem Jahre 1962 hält Haffenrichter fest: „Während der Schulzeit und sogar im ersten Weltkrieg wurde auf Wanderungen und im Ruhe­quartier eifrig Landschaft skizziert... Eigentlich wollte und sollte ich Ingenieur werden. Eine Mechaniker-Lehre in den Werkstätten der Würzburger Universität war die Vorbereitung. Auf mein Gesellenstück - typischerweise eine optische Farbenmischmaschine - bin ich sehr stolz."2'

Frühe Anregung in der Ölmalerei erfuhrerauch durch Peter Würth, der im nahe­gelegenen Veitshöchheim als Maler und Graphiker tätig war.3'

Während des Ersten Weltkrieges muß Haffenrichternach Siebenbürgen gekom­men sein. Die handschriftliche Fassung seines Textes „Woher kommen diese neuen Bilder?"4' erwähnt ein Erlebnis mit Licht auf einem vereisten Mühlrad 1917 in Siebenbürgen. Das unscheinbare Ereignis des Lichtreflexes deutet eines der Generalthemen in Haffenrichters späterem Werk an: die Übersetzung von Licht als kosmischem Phänomen mittels Form und Farbe in die zweidimensio­nale Fläche.

Die Begegnung mit einem besonderen Kunstwerk scheint für Haffenrichters Hinwendung zur Malerei von großem Gewicht gewesen zu sein: Im Sommer 1919 weilte er in München und erfuhr, daß der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald zur Bewahrung vor Kriegsschäden aus Colmar in der Alten Pina­kothek ausgelagert sei. Haffenrichter nahm die Gelegenheit zur Betrachtung wahr und empfing sein „Schlüsselerlebnis" auf dem Weg zur Kunst. Beim Isen­heimer Altar spielen Lichtphänomene eine beträchtliche Rolle. Das „Strahlen­wunder der Himmelfahrt"5' auf dem rechten Flügel der ersten Wandlung des Altars hinterließ einen bleibenden Eindruck auf den jungen Haffenrichter.

Der Holzschnitt„Die Hände des Heilands", den er um 1920 schuf, scheint mit sei­ner expressiven Gestik der übergroßen Hände an das Erlebnis des Isenheimer Altars anzuknüpfen. Im zweiten Zustand der Druckplatte gehen Strahlenbündel von den Händen des Gekreuzigten aus, die als Hinweis auf Überwindung des Todes und Auferstehung gelesen werden können (Abb. 6). Auch in der Kreuzigungsszene „Golgatha" bündeln sich Strahlen am Körper bzw. Kreuz Christi (Abb. 10). Stilistisch vergleichbar ist ein dritter Holzschnitt etwa derselben Zeit

1) Hans Haffenrichter, Erinnerungen an meine Jugend in Würzburg; in: Rolf Linnenkamp, Der Maler Hans Haffenrichter und das einheitliche ästhetische  Feld.   (=  Mainfränkische Hefte 57) Würzburg 1972, S. 5

2) Manuskript,  maschinenschriftlich, Prien 1962, S. 1

3) vgl. Haffenrichter, Woher die Bilder kommen. Gedanken über Kunst und Meditation. Hg. von der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) in der Reihe der Richard L. Cary Vorle­sung, Wien 1976, S. 4 u. Haffenrichter, Erinnerungen an meine Jugend in Würzburg, a. a. O, S. 5

4) abgedruckt in veränderter Form als: Hans Haffenrichter, Woher die Bilder kommen, a.a.O.

5) Hanswernfried Muth, Einführung in die Ausstellung Hans Haffenrichters im Kunstverein Minden; zitiert nach Ausstellungsbesprechung im Minde­ner Tageblatt vom 19.3.1974

 

 

mit der Darstellung eines männlichen Aktes. Die pathetische Gestik der über­längten, fadendünnen Gliedmaßen ist dem expressionistischen Weltgefühl des „Oh Mensch" verhaftet (Abb. 7).

Alle drei Blätter sind vermutlich dem Aufenthalt in Nürnberg zuzurechnen, wo Haffenrichter 1919 seine künstlerische Ausbildung an der Kunstgewerbeschule begann. Topographische Eindrücke von der Stadt hielt Haffenrichter in Holz­schnitten fest, so z. B. im Burgtor (Abb. 1).

Von den Lehrmethoden der Kunstgewerbeschule war er wenig angetan: „Ich erinnere mich, dass ich in der Aufnahmeprüfung der Nürnberger Kunstschule die Aufgabe bekam, ganz genau den Gipsabguss eines Akanthus-Kapitells abzuzeichnen; auf der Akademie verlangte man das Kopieren einer Aegineten-figur. Dann kam man in eine Klasse, in der der Professor das Vorbild war und fast alle Arbeiten verbesserte und korrigierte. Die Folge war Nachahmung des Lehrers."6' Da ihm die Lehrmeister dort nicht zusagten, war seine Ausbildungs­zeit in Nürnberg entsprechend kurz. Er verließ die Schule 1920.

In dem genannten Text „Woher die Bilder kommen", der als Reflexion seines bild­nerischen Anliegens auch seinen künstlerischen Werdegang in Ansätzen skizziert, spricht Haffenrichter von Burg Lauenstein in Thüringen als einer Station auf seinen vielen „Kunstreisen, Lehrreisen, Wanderreisen. ... In dem Kreise von Wilhelm Uhde fand ich sehr viel Förderung für die neuen Ansätze in der Malerei."7' Wilhelm Uhde, Kunsthistoriker und Schrittsteller, hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg auf Burg Lauenstein zurückgezogen und dort„eine Art platoni­scher Akademie eingerichtet, um der deutschen Jugend eine Synthese vom Geist der Menschen rechte und von der Sehnsucht Hölderlins und Jean Pauls zu vermitteln"8'

Eine „Landschaftliche Komposition" von 1921 mit groß und tektonisch gesehe­nen Einzelformen benennt Burg Lauenstein als Entstehungsort (Kat. 2). Vermut­lich schloß sich Hatten richters Aufenthalt dort an die Nürnberger Zeit an; die freie und konzentrierte Atmosphäre schien die richtige Vorbereitung für den Besuch des Bauhauses zu sein.

Im Herbst 1921 wurde Haffenrichter als Schüler des Bauhauses in Weimar auf­genommen. Wie alle Neuankömmlinge besuchte er den einsemestrigen Vor­kurs bei Johannes Itten. Jahrzehnte später erinnert er sich an die Material- und Texturstudien, die das Gefühl für Materialkontraste schulen sollten. „Ich weiß noch, wie uns Itten die Aufgabe stellte, eine Glasscherbe mitten in Watte hinein­zulegen, und das nun einmal darzustellen. So daß aber nicht nur ein fotografisch ähnliches Abbild entsteht, sondern man spürt die Weichheit der Watte, die nicht übertrotten werden kann, und die Härte dieser Glasscherbe, die verletzen kann. Das war also eine dieser Übungen, die wunderbar auf uns wirkte. Ganz ver­schieden von jedem Menschen gelöst wurde."9'

Haffenrichter erwähnt auch die Bauhaus-Meisterin Gertrud Grunow, die ihre Schüler zu Farbmeditationen anregte.10' Ihr Unterricht fand vermutlich parallel zu den Übungen Ittens statt. Im Anschluß an den Vorkurs arbeitete Haffenrich­ter in Lothar Schreyers Klasse für Bühnenarbeit. Schreyer war über Herwarth

6) Hans Haffenrichter, Das Bauhaus:

Verwirklichung der genialen Idee von Walter Gropius in Kunst, Architektur und Industrie. Manuskript, maschinen-schriftl., 1968,5.1f.

7) Hans Haffenrichter, Woher die Bilder kommen, a.a.O., S. 5

8) Wilhelm Uhde, Von Bismarck bis Picasso, Autobiographie 1938; zitiert nach: Walter Mehring, Verrufene Male­rei. Von Malern, Kennern und Samm­lern, Zürich 1958, S. 139

9) Gespräch Hans Haffenrichter mit FritzJürgenKaune.29.12.1979,Manu-skript S. 7

10) Gespräch Hans Haffenrichter mit Fritz Jürgen Kaune, 14.3.1978, Manu­skript S. 5

 

WaldensGalerie „Der Sturm" in Berlin an das Bauhaus in Weimar gekommen. Walter Gropius als Gründungsdirektor des Bauhauses pflegte guten Kontakt zu Waiden und dürfte für das Programm seiner neuen Kunstschule durch Waldens Avantgardearbeit in der Zusammenführung der Künste einige Anregung er­fahren haben. Schreyer hatte 1919 in Berlin die „Sturmbühne" aufgebaut und dabei Stücke von August Stramm, Hölderlin, Herwarth Waiden und eigene Dich­tungen gezeigt. In seiner Malerei vertrat Schreyer expressive und konstruktivisti­sche Tendenzen, wie alle anderen Bauhaus-Lehrer, die Gropius als Leiter berief. Sein ausgeprägtes Interesse galt Figurinen und Schriftgestaltung.

Schreyer betreute die Bühnenarbeit am Bauhaus von 1921 bis 1923. Hans Haffenrichter war von Person und Werk Lothar Schreyers gleichermaßen faszi­niert. „Wer 1921 in das Weimarer Bauhaus kam, fühlte augenblicklich die eigen­artige, ja verzauberte Welt der neuen Kunst. Ein Besuch in Lothar Schreyers Atelier verstärkte diesen Eindruck in extremer Weise. Hier standen die Masken, Plastiken und Bilder des Meisters, umgeben von vielen rätselhaften Südsee­skulpturen, Masken und Geräten der Neger, ein Leopardenthron und dazwi­schen Schreyers Totenbild eines Mannes und auch ein schönes, großes Bild von Leger. Im Gespräch spürte man sofort, daß man einem Wegbereiter neuer Dich­tung und Bühnenkunst gegenüber saß."11'

Im selben Text spricht Haffenrichter auch von seiner eigenen großen Leiden­schaft für Figuren- und Puppenspiel von Kindesbeinen an - „mit acht Jahren hatte ich mir selber eine kleine Bühne gebaut'121 - so daß er in Schreyers Um­gebung gut aufgehoben war.

Haffenrichters Beschreibung von Schreyers Atelier vermittelt das Bild einer exoti­schen Welt, die Schreyer sich durch sein räumliches Umfeld auch tatsächlich schuf. Der genannte Leopardenthron war ein holzgeschnitzter Stuhl aus West­afrika, der aus Pantherformen13) bestand. Das „Totenbild eines Mannes" gehörte zu zwei Totenhäusern, sarkophagartigen, außen bemalten Holzkörpern, die Schreyer je für sich und seine Frau schon in jungen Jahren geschaffen hatte. Schreyer bezog den Tod als selbstverständliche Größe in sein Leben mit ein und beschäftigte sich mit antiken Totenkulten Ägyptens und des frühen Christen­tums. Er war von christlicher Mystik geprägt und sah alle Kunst, auch die Arbeit am Bauhaus, letztlich im Dienste der Einswerdung der Seelenkräfte und religiö­sen Erneuerung des Menschen.

Schreyer stand mit solchen Vorstellungen am Bauhaus nicht allein. Eigentümlich war dort einerseits die Konzentration auf konstruktive, an der modernen Maschinenwelt orientierte Formgebung, andererseits eine Hinwendung zu mystischem Gedankengut oder fernöstlichen Heilslehren; Bauhausmeister wie Schlemmer, Itten und Muche hingen solchen Anschauungen an. Gropius mühte sich, den sozialen Utopiegedanken, der die Bauhausidee bei der Grün­dung 1919 trug, von theosophischen und mystischen Elementen freizuhalten, was nur schwer gelang.

Haffenrichter spiegelt diese ungewöhnliche Mischung aus Technikorientierung und Innerlichkeit. Sein Werk der frühen zwanziger Jahre zeigt die genannten

11) Hans   Haffenrichte);    Lothar Schreyer und die Bauhausbühne: in:

Eckhard Neumann (Hg.), Bauhaus und Bauhäusler, Bern und Stuttgart 1971, S.SO

12) ebenda

13) Lothar Schreyer selbst bezeichnet die Tiere als Panthergestalten; vgl. Schreyer, Erinnerungen an Sturm und Bauhaus, München 1956, S. 231

 

 

konstruktivistischen und kubistischen Tendenzen, wie die „Alte Gasse" von 1921 (Abb. 9), die mit ihren prismatischen Formverschränkungen den Einfluß von Lyonel Feininger belegt, der von 1919 bis 1932 Bauhaus-Meister war. Geistig ist Haffenrichter an anthroposophischen Ideen interessiert, wie übrigens auch Kandinsky, der sich mit Rudolf Steiner beschäftigte. Einigen seinerwerke ist die direkte Verbindung zu Schreyers Bühnenarbeit abzulesen. In seinem Rück­blick auf „Lothar Schreyer und die Bauhausbühne" erwähnt Haffenrichter „Tanz-und Bewegungsspiele", die unter Schreyers Leitung entstanden.14' Zur Vorbe­reitung der Aufführungen wurden Übungen im „Klangsprechen" gemacht, und die „Bewegungen der Spieler erwuchsen aus dem Klangton."15'

Schreyers Bemühungen trafen sich hierbei mit denen von Johannes Itten, der in seinem Vorkurs durch Atem- und Entspannungsübungen die künstlerische Gestaltung in Einklang mit physischem und geistig-seelischem Erleben zu bringen suchte.

Vermutlich aus der Zusammenarbeit mit Eva Weidemann, die als Tänzerin an Schreyers Bühnenaufführungen beteiligt war,16' resultiert eine Anzahl von far­bigen Zeichnungen Haffen richters, die als Bewegungsstudien und Richtungs­analysen zu verstehen sind (Abb. 3 u. 4).

Schreyer wie auch Schlemmer griffen auf Masken als Möglichkeit der Aus­druckssteigerung zurück. Die Person des Schauspielers mit seiner individuellen Mimik trat dabei hinter den meist überdimensionalen Masken zurück. Die Bedeutung dieser Verkleidung in der Bühnenarbeit reflektiert Schreyer in einem Gespräch mit Oskar Schlemmer: „Wir reden so viel, wahrscheinlich zu viel von geistiger Wirklichkeit, und daß wir versuchen, sie in Entsprechungen zu ver­künden. Sollten vielleicht die Masken, die wir unseren Bühnengestalten geben, die viele Menschen von heute so unmenschlich anmuten, auf andere Men­schenbilder hinweisen, die vor der sogenannten Menschengeschichte waren oder nach ihr sein werden? Und sollten nicht nur die Bühnenmasken, sondern auch unsere Bilder und Plastiken, in denen wir versuchen, ein nicht naturalisti­sches Bild des Menschen zu geben, auf diese anderen Menschengestalten anderer Zeiten hindeuten?"17) „Sehr möglich ist dies der Fall",18' besteigt Oskar Schlemmer.

Haffenrichter erinnert sich an die Titel der Bühnenstücke Schreyers: „Es entstand ein 'Marienlied' vor einem großen, von Schreyer gemalten Wandteppich, ein Tanz der Windgeister' mit Rhythmen, die auf einem afrikanischen Kalabassen-Xylophon [sie!] gespielt wurden, und ein 'Landsknechtstanz' in voller Maske, die wir selber bauten. ... Dann war es soweit, daß Lothar Schreyer für unsere Arbeit sein 'Mondspiel' dichtete und durchkomponierte."19' Schreyer hielt die Beteili­gung Haffenrichters in seinen Memoiren fest: „In der Bühnenwerkstatt baut Hans Haffenrichter an der großen Maske für mein „Mondspiel."20'

Um das alte Bild des Menschen zu irritieren und neue Sichtweisen beim Betrach­ter hervorzulocken, setzte Schreyer auch sogenannte Tanzschilde ein, zwei­dimensionale, mit abstrakten Formen bemalte Gebilde, die den Körper des Tanzenden fast ganz verdeckten.

14) Haffenrichter, Lothar Schreyer und die Bauhausbühne, a. a. 0, S. 50

15) ebenda, S. 51 

16) ebenda, S. 50

17) Oskar Schlemmer, Die Kunstfigur; in: Lothar Schreyer, Erinnerungen an Sturm und Bauhaus, München 1956, S. 179

18) ebenda

19) Haffenrichter, Lothar Schreyer und die Bauhausbühne, a. a. 0, S. 50

20) Schreyer, Erinnerungen an Sturm und Bauhaus, a.a.O., S. 199

 

 

In Haffenrichters Erinnerungen ist von den Tanzschilden Schreyers mehrfach die Rede, und unter den erhaltenen graphischen Blättern jener Jahre finden sich einige, die von Haffenrichter selbst als „Tanzschild" bezeichnet sind. Es dürfte sich dabei um Arbeiten parallel zu den eigentlichen Tanzschilden handeln, bildneri­sche Variationen zu den Bühnenrequisiten. Möglicherweise sind sie auch Vor­stufen zu den ausgeführten Objekten.

Eine dieser Arbeiten zeigt starke Verwandtschaft mit einem Linolschnitt von Läziö Moholy-Nagy, auch er Meister am Bauhaus (Abb. 18 b). Die geometri­schen Formen scheinen mechanische Bewegung einzufangen (Abb. 18 a), ent­sprechend der Zielsetzung des Bauhauses, dem technischen Zeitalter einen ästhetischen Ausdruck zu geben. Das von Haffenrichters Frau Ursula begon­nene handschriftliche Werkverzeichnis nennt für das Jahr 1923 drei Holz­schnitte zum Thema „Maschinenballett."21' Der genannte Tanzschild gehört in diesen Zusammenhang. Im „Maschinenmenschen" aus dem selben Jahr sind die Bewegungsrichtungen der Extremitäten markant vereinfacht und zugleich in ihrer Dynamik und Spannung gesteigert.

Auch in einer Reihe weiterer Linolschnitte suchte Haffenrichter den mensch­lichen Körper und seine Bewegung in ein strenges geometrisches Formschema zu übertragen, wobei Positiv- und Negativ-Flächen erst die Ganzheit der Form bilden (Abb. 14,16,17). Die Schulung an Schlemmer'schen Figurinen ist unver­kennbar.

Schlemmer selbst wie auch Schreyer sahen durchaus die Gefahr, mit ihren Figuri­nen nicht zu einem neuen Bild des Menschen zu gelangen, sondern in der Kunstfigur zu erstarren. Schlemmer stellte sich den Ausweg aus der drohenden Mechanisierung des Menschenbildes vor „durch eine rhythmische, nicht mehr kristallinische, sondern pflanzenhafte Komposition."22'

Schlemmers eigenes Werk enthält kaum pflanzenhafte Formen, Haffenrtchter hingegen griff die Idee des Pflanzlichen in Verbindung mit dem Menschen auf. Die „Figürliche Komposition" von 1923 (Abb. 24) zeigt eine geometrisierte weibliche Gestalt mit angewinkelten Beinen. 1925 entstand „Pflanze und Mensch" (Abb. 25). Kern der Darstellung ist eine weich gerundete Umrißform, die als weiblicher Torso gelesen werden kann. Das Gesichtsprofil entspricht spiegelbildlich genau dem der „Figürlichen Komposition". Eingeschlossen in die Körperform sind vegetative Elemente mit waagerecht angeordneten Blattfor­men und blütenhaftem oberen Abschluß. Die entstandene Verbindung von Mensch und Pflanze ist jedoch gewiß eine andere als die von Schlemmer inten­dierte. Dieser spricht von „pflanzenhafter" Komposition des Bildes, womit sicher­lich ein organischer Formaufbau gemeint ist, während Haffenrichter Pflanzen­haftes in den Menschen verlegt, ohne daß es zu einer eigentlichen Synthese zwischen beiden kommt. Das Formexperiment bleibt Singular. Weitere ver­gleichbare Werke sind nicht bekannt.

Doch setzte sich Haffenrichter mit dem Problem der menschlichen Figur pla­stisch auseinander. Neben seiner Bühnenarbeit besuchte er den Unterricht von Schlemmer, der damals als Formmeister die Bildhauerklasse leitete. Modellieren

21) Werknr. 45/23, 65/23 u. 73/23; Bezugspunkt ist wahrscheinlich das „Mechanische Ballett" von  Kurt Schmidt am Bauhaus.

22) Oskar Schlemmer, Die Kunstfigur, a.a.O., S. 180

 

 

in Ton läge ihm im Blut von seinen Vorfahren her, die Töpfer gewesen seien, leite­tet Haffenrichter 1980 rückblickend sein Interesse an der Plastik ab.23'

Schlemmers Suche nach Rückführung der menschlichen Figurauf einfache geo­metrische Grundformen spiegelt sich auch in der plastischen Arbeit Haffenrich­ters. Dessen Gesellenstück in der Bildhauerklasse ist ein weiblicher Torso in gebeugt knieender Haltung, in dem der Körper behutsam stereometrisiert ist (Abb. 15). Strenger sind die genannten Linolschnitte in der Vereinfachung der Form; sie stehen jedoch in Zusammenhang mit den plastischen Arbeiten. In einem Fall korrespondieren beide Medien unmittelbar; einzelne Ansichten, Haltungen und Bewegungsrichtungen des plastischen Körpers erscheinen in den Graphiken herausgelöst (Abb. 14).

Die menschliche Figur spielt im malerischen Werk Haffenrichters fortan eine geringe Rolle. Hingegen kristallisiert sich die Neigung zu naturwissenschaft­lichen Fragen auch bildnerisch heraus. Haffenrichter zeigte sich von Paul Klee beeindruckt, der ebenfalls ein starkes Interesse an Form- und Wachstums­prinzipien der Natur besaß. Er erwähnt „unvergeßliche Seminare bei Paul Klee,"24' das heißt, er muß an Lehrveranstaltungen Klees teilgenommen haben, auch wenn er nicht Schüler der Klee-Klasse war. Ohnehin war in der Weimarer Zeit die Zahl der Studierenden am Bauhaus klein und der Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden, auch über die Klassenzuordnungen hinweg, intensiv.

Die Bedeutung des Naturstudiums für ihn schon in jungen Jahren hebt Haffen­richter im eingangs zitierten Rückblick von 1962 hervor. In Paul Klee fand er einen Lehrer, der in ganz eigenwilliger und umfassenderweise den Bau- und Ordnungsgesetzen der Natur mit fast wissenschaftlicher Akribie auf die Spur zu kommen trachtete. Klee übertrug seine Beobachtungen in ein Lehrsystem, das dieAufmerksamkeitderSchülerauf die elementaren Formanfänge in Naturund Kunst richtete, auf Punkt, Linie und Fläche, die sich durch Bewegung und Wachs­tum in den Raum erweitern.

Klees Anliegen, dabei nicht die sichtbaren Dinge realistisch wiederzugeben, son­dern bildnerisch Gleichnisse und Symbole für Ursache und Wirkung in der Natur zu entwerfen, im kleinen Mikrokosmos Analogien zum Makrokosmos zu fin­den, dürfte im Bauhaus-Schüler Haffenrichter auf wache geistige Aufnahme­bereitschaft getroffen haben. Klee, der ursprünglich schwankte, ob er Musiker oder Maler werden sollte, stellte Verbindungen zwischen musikalischen und bildnerischen Strukturen her. Auch in dieser Hinsicht entwickelte sich eine Parallele im Werk Haffenrichters, der seine Bilder später als „farbige Lieder ohne Worte"25' bezeichnete und sich von musikalischen Werken zur Bildgestaltung anregen ließ.26'

Mit dem Linolschnitt einer Maske (Abb. 8) hat sich ein Beispiel dafür erhalten, daß Haffenrichter auch den spielerisch-fantastischen Zug in Klees Werk für eigene Formversuche adaptierte. Die genannte Graphik zeigt einen aus Linien gebildeten, fast rechteckigen Kopf, dessen Nase und Mund auf den zweiten Blick als Zahlen erkennbar sind. Ähnlich spielerische Gestaltungen sind aus

23) vgl. Hans Haffenrichter, 1923: bild-hauer am bauhaus: in: Wangler, bau-haus - 2. generation, Köln 1980, S. 23

24)Haffenrichter, Lothar Schreyer und die Bauhausbühne, a. a. 0, S. 51

25) Terra Incognita - Wesen und Wir­kung der Farbe. Aus dem Tagebuch Hans Haffenrichters, veröffentlicht in: Wege zum integralen Bewußtsein. Festgabe für Jean Gebser (= Bremer Beiträge zur freien Volksbildung, Heft 8) 1965

26) vgl. Händel-Toccata, Öl auf Lein­wand, 1920, Kat.Nr. 1 oder Musikali­sche Form, Scherenschnitt mit Gold­papier, 1922, Kat.Nr. 16

 

 

Haffenrichters weiterem Werk nicht bekannt. Seine Bildwelt zeigt eher gelasse­nen Ernst als die humorvolle Ironie, die Klee durchgängig pflegte.

Die häufig beschriebene Versunkenheit Klees in seine Arbeit wiederum verbin­det Haffenrichter mit dem Bauhaus-Meister. Für Klee ist die eigene Psyche ein Gleichnis der Welt,27' so daß sich introspektiv Symbole für den Kosmos finden lassen. Innenschau und Meditation spielen auch für Haffenrichter eine zentrale Rolle sowohl bei derBildfindung als auch bei der Bildwirkung auf den Betrachter. Sein künstlerisches Interesse richtet sich zu einem wesentlichen Teil auf das Kleine, Innerliche, nicht auf äußere Effekte, sondern auf die Erfassung „innerer Wirklichkeit"28'

In diese Denkweise paßt es gut, daß Haffenrichter 1924 mit Illustrationen zu Angelus Silesius an die Öffentlichkeit trat, den ersten Illustrationen, die von ihm publiziert wurden. Haffenrichter versah eine Ausgabe des „Cherubinischen Wan-dersmann"von Angetus Silesius mit 16 „Graphischen Interpretationen", wie es im Untertitel heißt. Angelus Silesius, der eigentlich Johann Scheffler hieß, ver­faßte im 17. Jahrhundert eine Reihe von Schriften über die mystische Beziehung zwischen Mensch und Gott und griff dabei auf die Gedanken der mittelalter­lichen Mystiker Meister Eckehart, Jakob Böhme u.a. zurück. Die Ausgabe des „Cherubinischen Wandersmann" enthält eine Spruchsammlung, die ursprüng­lich in sechs als „Bücher" bezeichnete Teile gegliedert war und vom Herausge­ber Walter Ehrenstein inhaltlich neu geordnet und unter Kapitelüberschriften neu gegliedert wurde wie „Mensch und Christus", „Mensch und Welt", „Abge­schiedenheit' oder „Nichts wollen macht Gott gleich".

Haffenrichters religiöse Bindung, dazu der Sitz des Verlages in Dresden/Leipzig, in erreichbarer Nähe zu Weimar, mochten den Weg für den Illustrationsauftrag ebnen. Möglicherweise half auch Schreyer vermittelnd, der sich selbst mit Silesius beschäftigte.29'

Einige der Illustrationen sind abstrakt und spiegeln Haffenrichters Auseinander­setzung mit expressiv-symbolischen Tendenzen. Flächen überlagern sich dabei in klaren Formen, wie zum Beispiel bei der ersten Illustration gegenüber S. 10, die sich recht genau einer konkreten Textstelle zuordnen läßt:

„Ich selbst muß Sonne sein, ich muß mit meinen Strahlen Das farbenlose Meer der ganzen Gottheit malen". Die Illustration zeigt einen hellen Kreis in der Mitte, durch den ein Paar vertikaler Linien und horizontaler Wellenlinien führt. Der Kreis ist eingeschlossen von einem auf die Spitze gestellten Herz, dessen Seiten von dunklen Streifen über­lagert werden (Abb. 21).

Da im gesamten Text viel von Licht die Rede ist, zeigt eine Reihe von Illustratio­nen eine helle Mitte, von der Strahlen ausgehen, auch bei gegenständlichen Darstellungen. Haffenrichter hatte sich schon früher religiösen Themen zuge­wandt, so in der Madonna von 1922 (Abb. 13), die in einen hellen Lichtkegel aus verschiedenen Farbsegmenten getaucht ist. Immer auch ist der Gedanke an Kosmisches, Sphärisches präsent und damit ein Generalthema, das zuneh­mend Bedeutung für Haffen richters Werk gewinnen sollte.

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Ein Kapitel des Silesius-Textes ist überschrieben:„Ort,Zeit und Ewigkeif'und ent­hält eine Illustration mit Kreisen und gekrümmten Linien, die die Vorstellung von Planetenbahnen erweckt. Die meisten der Illustrationen sind figürliche Motive, die P. Bommersheim 1925 in seiner Besprechung des Buches fürweniger gelun­gen hält als die abstrakten.30' Er bezeichnet die nicht-gegenständlichen Illustra­tionen im „Cherubinischen Wandersmann"als abstrahent statt abstrakt, um ihre Herkunft von gegenständlichen Formulierungen zu betonen.31) Haffenrichter übernimmt diesen Begriff, der auf den Philosophen Bruno Bauch32) zurückgeht, später selbst zur Charakterisierung seines Werkes - eine dem lateinischen Ursprung scheinbar näher bleibende Übersetzung des Wortes abstrakt. Nach den Jahren des Experimentierens und Suchens am Bauhaus verließ Haf­fenrichter 1924 Weimar, um sich andernorts weitere Anregung zu holen. Er fuhr nach London, wo er die Bilder Turners studierte, und im selben Jahr nach Kopenhagen, um als Gaststudent zwei Jahre lang Bildhauerei an der dortigen Kunstakademie zu betreiben. Im Atelier von Prof. Utzon Frank arbeitete er als Praktikant.

1927 war er wieder in Berlin. Dort hatte Lothar Schreyer, der das Bauhaus schon 1923 verlassen hatte, 1924 die Leitung der Kunstschule „Der Weg" übernommen, die Edmund Kesting neben einer ersten Weg-Schule in Dresden (gegründet 1919) ins Leben gerufen hatte.33' Kesting und Schreyer gehörten beide zum Umkreis des „Sturm", und es dürfte Schreyer gewesen sein, der für Haffenrichter den Kontakt zu Herwarth Waiden in Berlin herstellte. Das Gästebuch von Her­warth Waiden verzeichnet einen Eintrag Haffenrichters am 7.10.1922.34) Da aus den Einträgen zu schließen ist, daß Waiden Gästen das Buch jeweils nur beim ersten Besuch vorlegte, scheint mit dem genannten Datum der Beginn des per­sönlichen Kontaktes relativ sicher zeitlich fixiert. Im Oktober 1923 stellte Haffen­richter im „Sturm" aus zusammen mit Bela Kädär, Edmund Kesting, Fritz Burger-Mühlfeld und Hans Mattis-Teutsch und befand sich damit in einer Versammlung überwiegend abstrakter Expressionisten. Vollmers Künstlerlexikon des 20. Jahr­hunderts notiert: „Stellte 1923 im „Sturm" in Berlin eine Plastik aus."35' Haffenrich­ter schreibt in seiner Erinnerung an Lothar Schreyer: „In Verbindung mit dem „Sturm" veranstalteten wir Ausstellungen und einige Kunstabende. An einem „Sturm"-Abend zeigte ich unter anderem ein farbiges Lichtspiel, zu dem Lothar Schreyer uns den Text gab: „Die Geburt der Blume", ein Nachklang der Weimarer Arbeit und der reflektorischen Lichtspiele von Kurt Schwerdtfeger.36' In den Arbeiten derfolgenden Jahre wird die Auseinandersetzung mit naturhaf­ten Themen zunehmend bedeutsamer. Dabei bewegt sich Haffenrichter mehr und mehr von abbildhaften zu gleichnishaften Bildern, geistig dem Vorbild Klees verwandt. Am Beispiel zweier Darstellungen einer Blüte, im Abstand von fünf Jahren entstanden, läßt sich die Entwicklung recht gut verfolgen. Die „Blüte im Grün" von 1926 (Abb. 27) zeigt die Formen von Blüten und Blütenblättern zwar stilisiert, doch noch recht naturnah, während das Blatt „Knospen-Inneres" (Abb. 26) sich auf die Verbildlichung von Richtungs- und Wachstumskräften mittels Linien konzentriert.

30) P. Bommersheim, Buchbespre­chung zu Angelus Silesius. Cherubini­scher Wandersmann; in: Die Scheibe, Februar 1925, S. 7

31) ebenda

32) vgl. ebenda

33) vgl. Georg Brüht, Herwarth Waiden und der Sturm, Köln 1983, S. 113

34) vgl. ebenda, S. 332

35) Hans Vollmer (Hg.), Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Leipzig 1960

36) Haffenrichter, Lothar Schreyer und die Bauhausbühne, a. a. 0, S. 52

 

 

Ein Hauptstrang seiner Malerei gilt jedoch nicht der Darstellung einzelner Pflan­zen an sich, nicht der botanischen Besonderheit, sondern deren Einbindung in den Kosmos. „Pflanze zwischen Kraftfeldern", 1927 und „Komposition mit Pflan­zenkeim" von 1929 repräsentieren das künstlerische Anliegen jener Jahre. In ihnen sind jeweils stilisierte Pflanzen eingeschlossen in Systeme aus Kreisen, Ellipsen, Dreiecken und Farbbändern. Das Aquarell „Pflanze zwischen Kraft­feldern" erinnert in seinen lichten Farbflächen mit differenzierter Tonabstufung an die Technik der Glasmalerei. Der Eindruck ist nicht zufällig, denn für die Zeit ab 1925 sind Glasfenster-Entwürfe Haffenrichters bekannt.37'

Die "Komposition mit Pflanzen keim" weist wegen des deckenden Farbauftrags weniger auf Glasmalerei, zeigt jedoch auch die einzelne Pflanze eingeschlossen in ein System aus gebogenen und die Fläche ausspannenden Linien, wobei sich einzelne Segmentformen scheinbar überlagern. Formal dürfte Haffenrichterauf Anregungen durch Lyonel Feiningers kristalline Stadtbilder mit ihren prismati­schen Farbbrechungen zurückgegriffen haben. Dies galt schon für die 1921 ent­standene „Alte Gasse" (Abb. 9). Inhaltlich ist jedoch eine Veränderung einge­treten. Während die „Alte Gasse" als Formspiel die Zergliederung und Neuord­nung von Gegenstand und Fläche betreibt, geht es in den Pflanzenbildern um Sichtbarmachen der Verbindung des einzelnen Lebewesens mit dem Univer­sum. Neben dem Vorbild Klees wird hier auch anthroposophisches Gedanken­gut spürbar. Haffenrichter benennt in seinem Text „Woher die Bilder kommen" Philipp Dessauers Schrift über „Naturale Meditation" als Anregung.38'

Wichtig ist vor allen Dingen Rudolf Steiners Ansatz, der dazu aufrief „wirklich Zeit zu finden, die Dinge so zu betrachten, als ob wir in den Dingen drin wären mit unserem Denken, daß wir uns hineinversenken in die Dinge, in die innere Gedankentätigkeit der Dinge. Wenn wir das tun, dann merken wir nach und nach.wiewirförmlich zusammenwachsen mit den Dingen... Wenn der Mensch das in hohem Grade erreicht hat, so kann ihm manches klarwerden."391

Steiner nannte Goethe als einen exzeptionellen Menschen, dem diese Haltung in hohem Maße gelungen sei. Haffenrichter selbst verweist auf Goethes Meta­morphosen-Lehre, deren Studium ihn bewog,„das Thema der Genesis, also die Schöpfungsgeschichte, mit neuen Mitteln zu gestalten."40'

Haffenrichter blieb vier Jahre lang Leiter der Kunstschule „Der Weg" in Berlin. 1931 wurde er als Professor für Kunst-und Werkerziehung an die Pädagogische Akademie in Elbing (Westpreußen) berufen.Sein Aufenthalt dortwarvon kurzer Dauer. Wie alle anderen Bauhauslehrer und -schüler war er den Nationalsoziali­sten suspekt; das Bauhaus galt als Stätte des Kulturbolschewismus und wurde gleich nach der Machtübernahme geschlossen. Haffenrichter verlor noch 1933 sein Lehramt.

Er ging nach Berlin zurück, wo er die folgenden 12 Jahre der Diktatur vorwie­gend mit bildhauerischer Arbeit überstand. Trotz Berufsverbots während der gesamten Zeit der Naziherrschaft hatte er Porträtaufträge für Plastik, die ihn finanziell trugen. Dazu knüpfte er Kontakte zur Industrie und entwickelte z. B. Tonfiguren als Modelle für Bronzeleuchter (Fig. 2).

 

Fig. 2Entwürfe für Bronze-Leuchter,1935

 

 

 

Fig. 3 Hans Haffenrichter im Bildhauer-Atelier, Berlin, um 1940

 

37) vgl. handschriftliches Werkver­zeichnis Heft 1, Werknr. 4/25 u. 2/26

38) Hans Haffenrichter, Woher die Bilder kommen, a. a. 0., S. 8

39) Rudolf Steiner, Ausgewählte Texte. Einführung in die Anthroposophie, Dornach 1988, S. 24

40) Hans Haffenrichter, Woher die Bilder kommen, a. a. 0., S. 8

 

Gleichwohl war er 1937 vertreten auf der Ausstellung „Entartete Kunst" in München.

Das Nebeneinander von Berufsverbot einerseits und Industrieaufträgen und unbehelligter bildhauerischer Arbeit andererseits zeigt die Inkonsequenz und Ungereimtheit nationalsozialistischer Kulturpolitik, die weit weniger straff orga­nisiert war, als sie zu sein vorgab. Dazu paßt es auch, daß Haffenrichter die Mög­lichkeit fand, ein weiteres Buch zu illustrieren und zu publizieren. 1936 erschien in Essen das Werk „Unser täglich Brot", zu dem der Arzt Siegfried Johann von Sivers den Text schrieb. Sivers stellt anhand der Lebensgeschichte des Roggens das Prinzip von Werden und Vergehen, Leben und Tod aus nationalsozialisti­scher Sicht dar. Eingebettet in detaillierte naturwissenschaftliche Schilderungen zeigt er am Beispiel der für sich genommen unscheinbaren Roggenpflanze die Bedeutung der Gemeinschaft für den Einzelnen, die diesem erst Sinn und Da­seinsberechtigung gebe. Auch nutzt er die Beschreibung der biologischen Not­wendigkeit, das Samenkorn in die Erde zu versenken und als fertige Pflanze zu schneiden, zu Analogieschlüssen hinsichtlich Opferbereitschaft und Furchtlosig­keit gegenüber dem Tod bei der nordischen Rasse.

Haffenrichter nimmt bei der Publikation eine eigentümliche Rolle ein. Die Illustra­tionen sind eine geradlinige Fortsetzung seines bis dato erarbeiteten Werkes. Es sind einerseits naturalistische und naturwissenschaftliche Zeichnungen, Ansich­ten von Zellschnitten, Wurzelwerk im Erdreich etc., Frucht seines von Jugend an intensiv betriebenen Naturstudiums. Zum anderen sind es, jeweils als Kapitelein­leitung, symbolische Darstellungen der Verbindung von Pflanze und Kosmos, wie sie ähnlich als Illustrationen von Angelus Silesius'Cherubinischem Wanders-mann 1924 im Werk Haffen richters auftreten. Nun kann man dem historischen Text Angelus Silesius' keineswegs faschistische Ideen zuordnen, ebensowenig wie Haffenrichter, der es abgelehnt hatte, der NSDAP beizutreten und daraufhin in Elbing sein Lehramt verlor. Seine Faszination für die „Kräfte der Erde", wie ein Aquarell von 1930 benannt ist (Abb. 28), entspringt seinem tiefen Glauben an das Wirken göttlicher Kräfte in der Natur. Daß er seine regelrechte Hingabe an die Schöpfungsgeschichte mit der Illustration des Roggenbuches in den Dienst natio­nalsozialistischer Ideologie stellt, mag Ausdruck wirtschaftlichen Drucks sein in einer Zeit, in der mißliebige Künstler auch finanziell an den Rand gerieten.

Immerhin trugen ihm die naturwissenschaftlichen unter seinen Roggenbuch-Illustrationen die Aufmerksamkeit des Kaiser-Wilhelm-lnstituts für Physik in Ber­lin ein. Insbesondere seine Darstellung des nicht sichtbaren Vorgangs der Assi­milation, des Auf baus körpereigenersubstanzen aus körperfremden Nahrungs­stoffen, weckte das Interesse der Forscher (Abb. 29). Sie suchten damals nach verständlichen Formen einer bildlichen Darstellung der Struktur der Atome und bezogen Hans Haffenrichter in diese Aufgabe ein. Während der Kriegsjahre 1943/44 war Haffenrichter als wissenschaftlicher Zeichner für das Institut tätig. In intensivem Gedankenaustausch mit einer Gruppe von Forschern entwickelte er bildhafte Möglichkeiten der Veranschaulichung dessen, was niemand mit den bis dahin zur Verfügung stehenden Mikroskopen sehen konnte. Werner

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Meisen berg, seit 1941 Direktor des Instituts, erinnert sich in einem späteren Brief an die Gespräche mit dem Künstler.

Nach rund anderthalb Jahren der Auseinandersetzung mit der molekularen Struktur einzelner Stoffe lagen Bilder vor von Steinsalz, Graphit, Kupfer, Diamant usw.. Atomgitter, Kraftlinienfelder und Elektronenwolken waren dabei veran­schaulicht; insgesamt ging es darum, die dynamische Beziehung der in ständi­ger Bewegung befindlichen Teile deutlich zu machen (Abb. 34 u. 35). Haffen­richters Arbeiten sind als weiße Temperazeichnungen auf schwarzem Karton angelegt, einige auch farbig, entsprechend einer Anregung Heisenbergs,„durch verschiedene Farben bei verschiedenen Atomsorten auch noch gewisse künst­lerische Wirkungen zu erzielen.. "41) (vgl.Abb. 36). Der Atomphysiker bestätigte später Haffenrichter, dieser habe das Problem der Verbildlichung von Atomstruk­turen „energisch, und, wie mir scheint, mit erheblichem Erfolg in Angriff genom­men."42' Das handschriftliche Werkverzeichnis nennt insgesamt 22 Arbeiten zum Bereich wissenschaftlicher Graphik aus den Jahren 1943 bis 1945.

Als 1950 das erste Feldelektronenmikroskop benutzt werden konnte, war man erstaunt über die anschauliche Nähe der Haffenrichter'schen Zeichnungen zu dem tatsächlichen Aussehen der Moleküle und Atome. Gleichwohl sind sie keine objektive Wiedergabe der naturwissenschaftlichen Fakten, sondern eine Art „Versinnbildlichung"43' dieser Phänomene. Haffenrichter formulierte sein Anliegen später als die Verpflichtung, „dem heutigen Menschen zu helfen, damit er sich in diesem sich ständig erweiternden Weltbild zurechtfindet. Der Mensch muß gefühlsmäßig Kontakt gewinnen können auf dem Wege über eine klare Anschauung der komplizierten Vorgänge und Kraftfelder innerhalb der Materie"44'

Es mag erstaunen, daß Haffenrichter von gefühlsmäßigem Kontakt zu physika­lisch-chemischen Sachverhalten spricht. Ersuchte in seiner Arbeit rationale und intuitive Formen der Welterfassung zum Ausgleich zu bringen. Deshalb wandte er sich mehr und mehr der abstrakten Kunst zu, weil nach seiner Vorstellung alles Naturalistische die Entdeckung innerer Wirkkräfte behindere.

Aus der Begleitung wissenschaftlicher Vorhaben erwuchsen freie Kompositio­nen. Als Haffenrichter 1945 Berlin verließ, um sich in Heidelberg anzusiedeln, nahm er die zuvor entwickelten Themen für seine bildnerische Arbeit mit. Insbe­sondere Kristalle fesselten seine Aufmerksamkeit.

Er sammelte mineralogische Funde und setzte sich nicht nur mit der molekula­ren Struktur, sondern auch mit der Oberflächenbeschaffenheit von Gestein künstlerisch auseinander. Die Bildtitel sprechen für sich: Pyrit 1951, Roteisenerz 1952, Großer Kristall auf Gold 1967, Kristalline Impression 1968 (Abb. 45, 46,62).

Seinen Lebensunterhalt verdiente er ab 1945 als Kunsterzieher des Information-and-Education-Center (l.-and-E.-School) der US-Armee in Heidelberg. Bald knüpfte er Kontakte zu Wissenschaftlern der Universität Heidelberg und setzte die in Berlin begonnenen Diskussionen über Themen aus Physik und Mineralo­gie fort. Dabei spielte auch das Phänomen des Lichtes, das seinerzeit, 1919, bei

 

Fig. 4 Hans Haffenrichter vorwissenschaftlichenZeichnungen, um 1943

 

 

Fig. 5 Hans Haffenrichter, um 1955

 

41) Brief von Werner Heisenberg an Hans Haffenrichter vom 9.5.1972:

Kopie in der Städtischen Galerie Würzburg

42) ebenda

43) Ludwig Heinrich Heydenreich, Art und Sdence; zitiert nach: Hellmut Droscha, Die Wissenschaft macht Anleihen bei der Kunst. Ein Maler ent-schiffert die Natur: in: Die Neue Zei­tung, 8./9.12.1951,5. 19

44) zitiert nach Helmut Greulich. Kunst entschleiert Atom-Geheimnisse; in:

Hamburger Anzeiger, 13.8.1955, S. 9

 

der Betrachtung des IsenheimerAltares eine Schlüsselrolle für die Entscheidung zur Kunst innehatte, eine beträchtliche Rolle. Haffenrichter studierte die Brechun­gen des Lichtes beim Durchgang durch einen Kristall und entwickelte Bilder mit subtilen oder kräftigen Farbklängen, die schwebende und transparente Formen bestimmen. In einem Gespräch mit dem Psychologen und Philosophen Fritz Jürgen Kaune gab Haffenrichter an, daß ihn hinsichtlich der Transparenz kristalli­ner Formen Lyonel Feininger angeregt habe. „Ich bin also nicht allein mit dem Wunsch, die Farbe transparent oder schwingend hinzukriegen."45'

Um diese Lichtwirkungen zu erreichen, bediente er sich einer speziellen maleri­schen Technik. „Die Konsistenz des Maluntergrundes ist für die Leuchtkraft der Farben entscheidend. Die Steigerung über die Norm hinaus erreiche ich bei Tempera-Malerei dadurch, daß ich einen sehr harten Grund unterlege: Ich nehme weiße Dispersionsfarbe, wie sie auch für Außenanstriche verwendet wird. Die besondere Wirkung erziele ich, indem ich mehrere, zum Teil sehr dünne Farbschichten auftrage und mit Tempera und Lasurfarben gewisser­maßen modelliere.Aufdem harten Untergrund stehen die Farben dann sowohl zart wie auch kräftig"46'

Die beschriebene Technik ist typisch vor allem für Haffenrichters Arbeit seit den fünfziger Jahren, in der die Temperamalerei für ihn zunehmend an Bedeutung gewann. Haffenrichter war jedoch nicht allein das Phänomen transparenter Farbe wichtig. „Transparenz ist es technisch gesehen, aber die Transzendenz ist das, was man sonst mit innerer Wirklichkeit oder mit imaginärem Realismus bezeichnet, [das], was dahintersteckt. Da ist der Unterschied schon groß. Sehen Sie mal dahinten dieses Kristall-Bild beim Ofen,... da ist der Kristall auch schon durchscheinend geworden. ... Da ist Goldocker drauf. Der steht da fast wie in einem Märchen drin"47'

Äußerungen wie diese bezeugen ein ums andere Mal, daß es Haffenrichter nicht um exakte Naturwissenschaft ging, sondern um Gleichnisse, Analogien, Visionäres. „Diese Erlebnisse von Blumen oder Felsen oder von Kristallen. - Ich bin doch in den Steinbrüchen von Carrara herumgeklettert, ich könnte heute noch mindestens zwanzig Bilder aus dem Gedächtnis malen. Was ich da erlebt habe in diesen kristallinen Gesteinsbrüchen!... Da kommt plötzlich das Innere des Berges raus.Alle diese Erlebnisse gehen natürlich auch in die Bilder ein.Aber wie Sie sagen, das ist vorgrammatisch, das ist Material, Erfahrungen, [die] sich noch umwandeln müssen."48'

Da er nach Erfahrung des Verborgenen in der Natur suchte, relativierte er auch die Bedeutung der Geometrie für seine Bildervon Kristallstrukturen.wie im übrigen auch in der Natur selbst die Struktur der Kristalle weit weniger regel­mäßig ist, als sie auf den ersten Blick erscheint. Das „Gebaute in der Natur [ist] keineswegs nur mit der Genauigkeit des Zirkels und des Maßstabs zu messen"49'

Verbunden mit der Kristallthematik ist ein zweites Hauptthema, schon in Aquarellen der frühen Jahre vorbereitet, das der Welle. „Also alles, was im Leben an Dramatik da ist, ist ja im Spiel von sich bewegenden Wellen ganz großartig

 

45) Gespräch Hans Haffenrichter mit Fritz Jürgen Kaune, 14.3.1978, Manu­skripts. 1

46) Zitiert nach Linnenkamp, Der Maler Hans Haffenrichter und das ein­heitliche ästhetische Feld, a. a. 0., S. 7

47) Gespräch Hans Haffenrichter mit Fritz Jürgen Kaune, 14.3.1978, Manu­skript, S. 1 f.

48) ebenda, S. 2

49)Gespräch Hans Haffenrichter mit Fritz Jürgen Kaune, 20.3.1979, Manu­skript S. 8

 

 

da. ...Und als mir plötzlich bewußt wurde und ich mich daran erinnerte, daß die Physiker sagen, selbst der kleinste, härteste Kristall ist von solchen Schwingun­gen durchzogen... - Ist alles, was scheinbar kaum wächst oder durch 10 000 Jahre gewachsen ist, ist trotzdem als Schwingung entstanden und enthält die Schwingung ja noch .. "50)

Haffenrichters ungebrochene Begeisterung und Neugier für die Zusammen­hänge der Natur machte ihn weiterhin zu einem aufgeschlossenen Partner von Industrie und Institutionen bei der Visualisierung nicht sichtbarer Phänomene. Das 1943/44 im Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin Begonnene setzte sich in den 50er und 60er Jahren fort. So schuf Haffenrichter in den Jahren 1955 und 1956 drei Glasmosaiken für das Mineralogisch-Petrologische Institut und Museum der Universität Bonn mit den Themen „Meteoritstruktur", „Vulkanis­mus" und „Diamanten auf Kimberlit". Für die Hamburgischen Elektrizitätswerke entstanden 1953,1958 und 1961 insgesamt vier Glasfenster bzw. Mosaiken zu Themen der Elektrizität (Fig. 6), für die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitäts­werke in Essen 1961 ein Glasfenster und ein Glasmosaik. Die Liste ließe sich fort­setzen.

Bei der Konzeption und Ausführung dieser Arbeiten half ihm Horst Raszat, ein junger Kunsterzieher, den Haffenrichter 1946 als Studenten in einem seiner Heidelberger Kurse kennengelernt hatte. Raszat brachte durch seine Vorbil­dung als Techniker fundierte naturwissenschaftliche Kenntnis ein und bildete eine ideale Ergänzung zu Haffenrichters künstlerischem Ansatz. Gemeinsam gestalteten beide auch eine Reihe von Broschüren und Zeitschriften für die Elektrizitätswirtschaft und zeichneten technische Diagramme. Die Zusammenarbeit der beiden blieb lebenslang intensiv. Als Haffenrichter 1949 die Leitung der Abteilung Wandmalerei der Werkkunstschule Wiesbaden übernahm, führte Raszat die Kurse am Information-and-Education-Center in Heidelberg weiter.

In den 70er Jahren zog sich Haffenrichter von großen Aufträgen zurück. Doch unermüdlich verfolgte er in seinen Bildern, von denen er die kleineren auf Papier „Tagebuchblätter" nannte - wie regelmäßige Aufzeichnungen - sein Anliegen, Natur und Schöpfung in Farbe zu übersetzen, sie zu verwandeln. Zu Fritz Jürgen Kaune sagte er 1978: „Mir ist ganz klar geworden in den letzten Jahren: was ich hier tue, ist eigentlich eine Art Spurensuche, eine Art ... Graben nach dem Ursprünglichen."51'

Bis in seine letzten Lebenstage behielt er diese Spurensuche bei. Er starb, mitten aus der Arbeit herausgerissen, am 22.2.1981 in Prien am Chiemsee.

 

 
Fig. 6
Bei der Montage des Glasmosaiks „Versorgungs­gebiet der Hamburgischen Elektrizitätswerke", Pumpspeicherwerk Geesthacht,1958. V. l. n. r.: Hans Haffenrichter, Tochter Kathrin, Horst Raszat

 

 

 

 

50) Gespräch Hans Haffenrichter mit Fritz Jürgen Kaune, 13.3.1978, Manu­skript S. 3